Goethe und die neuzeitliche Naturwissenschaft 

Goethe erblickte in der Tatsache, daß er Dichter war, keinen Nachteil für seine wissenschaftliche Forschung. Er hielt die Vereinigung von künstlerischer Intuition und Phantasie mit der methodisehen Weise wissenschaftlicher Beobachtung geradezu für die höchste Garantie wahrer Erkenntnisse. Dabei nutzte er einen Vorteil aus, den die Kunst gegenüber der Wissenschaft hat :  
Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die danach streben, Reaktionsabläufe in ihrer Dynamik zu erfassen und zusammen-hängend auszuwerten, ist Kunst in der Lage, innerhalb einer steten Bewegung anzuhalten und so einen bestimmten Abschnitt sichtbar zu machen und ihn hervorzuheben.  
Kunst und somit Dichtung sind also geeignete Mittel, den Typus darzustellen, während es in Wirklichkeit nur ständige Metamorphosen gibt. Hierdurch wird nun verständlich, warum Goethe die Entwicklung einer sommerannuellen Blütenpflanze, deren Wachstum von Frühling bis Herbst kontinuierlich ver-läuft, in einer stufenweisen Folge darstellen konnte .  
Es versteht sich, daß die „moderne" Naturwissenschaft nichts von Goethes Ansichten wissen wollte .  
Vergleicht man die Methoden der naturwissensehaftlichen Forschung mit den Goetheschen Methoden, stößt man auf gravierende Differenzen. Goethes Art naturwissenschaftlich zu arbeiten zeigt Merkmale antiker Naturforschung:  
Zunächst ist für das antike Weltbild ein statisches Denken typisch, dem steht das dynamische gegenüber, auf dem unsere Naturforschung seit der Renaissance beruht. So konnte die griechische Naturwissenschaft  (und mit ihr selbst Aristoteles)  nicht den Begriff der Bewegung erfassen. Die Bewegung löste sich für die Griechen stets auf in eine Reihe einzelner Zustände.  
Ein anderes wichtiges Unterscheidungsmerkmal von antiker und moderner Naturwissenschaft ist die sogenannte „Qualitätslehre". Dagegen ist es bezeichnend für die moderne Naturwissenschaft, überall Qualitäten durch Quantitäten zu ersetzen, „zu messen, was man messen kann, und meßbar zu machen, was man noch nicht messen kann". Im Gegensatz dazu hat die Antike eine solche Denkweise immer wieder abgelehnt.  
Ein weiterer Unterschied zeigt sich in der allgemeinphilo-sophischen Orientierung. In der antiken Welt- und Naturauf-fassung gelangt man vom Allgemeinen zum Besonderen. Eine ausschlaggebende Bedeutung kommt dem „allgemeinsten aller allgemeinen Probleme, dem Gottesproblem"  (*7) zu. Die antike Naturwissenschaft ist somit durch und durch teleologisch orientiert. Bedenkt man, welche verehrende Pietät und Weltfrömmigkeit aus Goethes Pflanzenelegie spricht, so leuchten verwandte Züge zur Antike bei Goethe unmittelbar ein.  
Kennzeichnend für die griechische Art ist zudem, daß stets von dem Fundament aller Wissenschaften, der Philosophie, ausgegangen wurde hin zu den Sonderwissenschaften und den mit ihnen verbundenen Phänomenen. In unserer Zeit ist jedoch,  zumindest bei den Naturwissenschaften,  die Philosophie in den Hintergrund getreten; die Naturwissenschaften haben selbst die führende Position übernommen. So gelagt man heute von den Naturwissenschaften aus vielleicht zur Philosophie.  
Die wesentlichen ideengeschichtlichen Unterschiede zwischen antiker und moderner Naturwissenschaft sind in der folgenden Tabelle gegenübergestellt .  
 
Ideengeschichtliche Unterschiede zwischen antiker und moderner Naturforsehung 
 
            antike Naturforschung                                                      moderne Naturforschung 
           Vollendung                                                                     Unendlicher Prozeß 
           Statik                                                                             Dynamik 
           Geometrie                                                                      Analysis (Infinitesimal-Analysis) 
           Qualitäten                                                                      Quantitäten 
           Kontingenz                                                                     Kausalität 
 
           Vom Allgemeinen                                                           Vom Besonderen 
           zum Besonderen                                                             zum Allgemeinen 
 
           Von der Philosophie zur                                                  Vom Phänomen und seiner 
           Sonderwissenschaft und                                                  Sonderwissenschaft viel- 
           zum Phänomen                                                                leicht zur Philosophie 

           Gott als unentbehrlicher                                                  „Hypothesis non fingo" 
           Ausgangspunkt 

            (Aus: A. MEYER-ABICH,  Biologie der Goethezeit,   S.21 .) 

 
Carl Friedrich von Weizsäcker (*8) bezeichnet die Natur-wissenschaft der Neuzeit als eine Denkweise, „die ihr methodisches Bewußtsein zu immer größerer Klarheit entwickelt hat". Von den modernen Naturwissenschaften un-terscheidet er Goethes Methode dadurch, daß bei der Na-turwissenschaft die platonische Idee zum Allgemeinbegriff wird, bei Goethe jedoch zur Gestalt; die Teilhabe der Sinnenwelt an der Idee wird in der Naturwissenschaft zur Geltung von Gesetzen, bei Goethe zur Wirklichkeit des Symbols.  
Für die neuzeitliche Naturwissenschaft genüge es, sagt Weizsäcker, daß ein Forscher die sinnliche Erfahrung gemacht hat und jeder andere sie grundsätzlich wiederholen könne. Das Wiederholbare aber sei ersetzbar. Die Sinneserfahrung, in der Goethes Wissenschaft wurzelt, sei seine eigene, sei unersetzbar. Nichts liege Goethe mehr am Herzen, als den Leser zum eigenen, unersetzbaren Sehen anzuleiten.  
In seinem „Nachwort" zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften versucht Weizsäcker zu erklären, warum Goethes Bemühen, seine Wissenschaft als unlösbares Glied in die Kette der objektiven Naturerkenntnis der Neuzeit einzufügen, mißlungen ist .  
Beim Lesen dieser Rezension muß jedoch unbedingt bedacht werden, daß Carl Friedrich von Weizsäcker von Haus aus Physiker ist; er mißt Goethes wissenschaftliche Schriften daher mit den methodologischen Maßstäben der Physik.  
Die Physik aber leitet sich von einer abstrakten Wissenschaft, der Mathematik, ab. Kennzeichen physikaliseher Forsehung ist das Messen und das Festhalten dieser Meßergebnisse in abstrakten mathematischen Gleichungen.  
Die ursprünglichste Aufgabe der Biologie ist dagegen das Beobachten und das Beschreiben konkreter Gegenstände. Genau dies hat Goethe erkannt und in seinen morphologischen Schriften verifiziert. So ist es zu erklären, warum seine Schriften über die Morphologie bis zur Gegenwart diejenigen seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten sind, die am meisten Anerkennung unter den Fachleuten gefunden haben .  

Über die Reaktion seiner Zeitgenossen auf die Veröffentlichung der Prosaabhandlung „Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären" berichtet der Dichter selbst in dem Kapitel „Schicksal der Druckschrift"    (*9) 

 „Und so ward auch ich noch ehe mir ein öffentliches Urteil zukam, durch eine  Privatnachricht gar wundersam getroffen. In einer ansehnlichen deutschen Stadt  
 hatte sich ein Verein wissenschaftlicher Männer gebildet, welche zusammen, auf 
 theoretischem und praktischem Wege, manches Gute stifteten. In diesem Kreise  
 ward auch mein Heftchen, als eine sonderbare Novität, eifrig gelesen; allein jeder- 
 mann war damit unzufrieden,  alle versicherten: es sei nicht abzusehen,  was das 
 heißen solle ?" 

Dieser Abschnitt, hier exemplarisch ausgewählt, soll stell-vertretend für vieles andere, was zu jener Zeit über die Prosaabhandlung geschrieben wurde, zeigen, wie enttäuschend die Resonanz auf diese Arbeit für Goethe sein mußte . Immerhin weist er in dem Abschnitt „Drei günstige Rezensi-onen" darauf hin, daß ihm von anderer Seite auch Anerken-nung zuteil wurde. Obwohl drei Rezensionen angekündigt sind, spricht Goethe doch nur von zweien. Im Aufsatz  „Wirkung die-ser Schrift" (LA I, 10, S.297 - 318)  von 1830 sind die drei Rezensionen genannt.  
  
Günstige Rezensionen finden sich :  
In den Göttinger Anzeigen, Febr. 1791 .  Allgemeine deutsche Bibliothek Bd. 116 .  
In der Gothaischen Gelehrten-Zeitung, April 1791.  
Weitere Rezensionen vergl. Schmidt, Nr. 877 - 886  und  902 - 924 .  

Ebenfalls in dem Kapitel „Schicksal der Druckschrift" (*9) finden wir auch einen Hinweis auf die Elegie :  
„Freundinnen, welche mich schon früher den einsamen Gebirgen, der Betrachtung  
 starrer Felsen gern ent-zogen hätten, waren auch mit meiner abstrakten Gärtnerei  keineswegs zufrieden. Pflanzen und Blumen soll-tes sich durch Gestalt, Farbe, Geruch  auszeichnen,  nun verschwanden sie aber zu einem gespensterhaften Schemen.  
Da versuchte ich diese wohlwollenden Gemü-ter zur Teilnahme durch eine Elegie zu  
locken, der ein Platz hier gegönnt sein möge, wo sie, im Zusam-menhang wissenschaftlicher  Darstellung, verständ-licher werden dürfte, als eingeschaltet in eine Folge zärtlicher und  leidenschaftlicher Poesien." 
            aus: G.s Werke, Hamburger Ausg. Bd. 13, S.105, 33ff. 
 
An dieser Stelle schiebt Goethe den Text der Elegie ein, und nach Abschluß der Verse heißt es weiter:  

 „Höchst willkommen war dieses Gedicht der ezgent-lich Geliebten, welche das Recht hatte,  die lieb-lichen Bilder auf sich zu beziehen; und auch ich fühlte mich sehr glücklich, als das  lebendige Gleichnis unsere schöne vollkommene Neigung stei-geste und vollendete; von der  übrigen liebens-würdigen Gesellschaft aber hatte ich viel zu er-dulden, sie parodierten meine  Verwandlungen durch märchenhafte Gebilde neckischer, neckender An-spielungen."  (*9)  

Aus diesen Worten ist nun deutlich zu ersehen, daß es sich bei der Elegie zunächst um ein Werk didaktischer Poesie handelt, es ist die dichterische Fassung eines klar umrissenen Forschungsberichts. Durch die dichterische Gestaltgebung zeigt Goethe, daß sich das Gespensterhafte und Schemenhafte,  
das für den Ungeübten in dem Urbild- und Metamorphosegedanken liegen mag, in lebendige Anschauung verwandeln läßt. Aber die Elegie ist mehr als ein bloßes Lehrgedicht, sie ist zugleich „das lebendige Gleichnis" einer glücklichen Liebe und,   das Gedicht als Ganzes betrachtend,  kommt man zu dem Schluß, daß es darüberhinaus ein Symbol ist für die Wandelbarkeit der Dinge überhaupt.  
 



  
nächste Seite
 
vorherige Seite
 
Inhaltsverzeichnis